Wie Putin Kafka in den Schatten stellt und warum wir uns mit den Menschen, die nicht wegschauen, solidarisch zeigen sollten. Kolumne vom 18.09.2024
Als vor zwei Jahren am 7. Oktober der neue Träger des Friedensnobelpreises bekanntgegeben wurde, dauerte es nur wenige Stunden, bis die Eingangstüren des Moskauer Büros von MEMORIAL bildmächtig für das russische Propagandafernsehen mit Handschellen verschlossen wurden. Der Staat beschlagnahmte per Gerichtsverfügung das Gebäude. Die 1989 gegründete wichtigste Menschenrechtsorganisation Russlands sollte endgültig liquidiert werden. Denn die Hilfe für die Opfer von Repressionen, der Kampf gegen staatliche Gewalt und die Enthüllung der Verbrechen der Stalinzeit gefährdeten zunehmend das Putinregime und seine neostalinistische Orientierung.
Dass vor wenigen Wochen Irina Scherbakowa und Oleg Orlow, zwei der Mitbegründer von MEMORIAL, die erste Ausstellung über die Organisation im Ausland eröffnen konnten, muss man als Glücksfall bezeichnen, weil ihr die rechtzeitige Flucht und ihm die Befreiung aus der Haft durch den spektakulären Gefengenenaustausch womöglich das Leben gerettet haben. Die Ausstellung im Weimarer Bauhaus-Museum, die auch dem langjährigen Leiter der Buchenwald-Gedenkstätte Volkhard Knigge als Mit-Kurator zu verdanken ist, sollte unbedingt weitere Stationen finden. Sie ist ein Beweis, dass es auch ein anderes Russland gab und – so wenigstens die Hoffnung – wieder geben wird.
Orlow hatte sich im Februar in seinem mutigen Schlussplädoyer nach Anklage und Verurteilung wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ direkt an Regierungs- und Vollzugsbeamte, Richter und Staatsanwälte gewandt: „Ihr wisst ganz genau, was vor sich geht. Und ihr seid längst nicht alle davon überzeugt, dass politische Unterdrückung notwendig ist. Manchmal bedauert ihr, wozu ihr gezwungen seid, aber ihr sagt euch: ‚Was kann ich denn sonst tun? Ich befolge nur Befehle. Das Gesetz ist das Gesetz.'“ Die Vertreter der Staatsanwaltschaft fragte er, ob sie selbst keine Angst hätten, „dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern, Gott bewahre, auch Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?“ Ob Ihnen nicht das Offensichtliche in den Sinn käme, dass die Unterdrückungsmaschinerie früher oder später diejenigen überrollen könnte, die sie in Gang gesetzt und vorangetrieben haben? Denn so sei es in der Geschichte schon oft geschehen.
Den Prozess hatte Oleg Orlow im gläsernen Käfig des Gerichtssaals in einem Buch lesend verfolgt. In seinen Händen – vom gleichen Typ Handschellen gefesselt wie zuvor die Flügeltüren der MEMORIAL-Zentrale – hielt er, für die Kameras und die Prozessbeobachter sichtbar, ein besonders großes Exemplar von Kafkas „Der Prozess“. Doch im Unterschied zu Kafkas Protagonist, der keine Ahnung hatte, weswegen er angeklagt und verurteilt wurde, sagte Orlow, wisse in Russland jeder den wahren Grund, warum man festgehalten, angeklagt, verurteilt und getötet werden könne.
Zur Ausstellungseröffnung in Weimar beschrieb Irina Scherbakowa, wie die Aktivisten von MEMORIAL über viele Jahre davor gewarnt haben, dass die Menschenrechte auch in der postsowjetischen Zeit verletzbar seien, wenn man sie nicht verteidige. Doch jene, die so denken würden, seien nun in der Minderheit, „und die wenigen Proteste nach Kriegsbeginn sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden“. Der Alltag in Russland sei bestimmt von wegschauen, sich verstecken, Anpassung, Angst.
Eine tragische Erfahrung, die sie nun ins Exil mitgenommen habe. Aber Aufgeben ist keine Alternative – Das „andere Russland“ braucht unsere Solidarität.
Die Kolumne erschien am 19.09.2024 in der Frankfurter Rundschau.