Kolumne 21. Mai 2013
Wer es in gut zwei Jahren auf 120 Einladungen zu Gratisreisen und mehr als tausend für meist üppige Empfänge bringt, der kann in seinem Leben nicht alles falsch gemacht haben. Dieser Mensch muss sehr beliebt sein – oder sehr korrupt.
Auf H.P. Martin, den unabhängigen österreichischen EU-Parlamentarier, trifft beides nicht zu. Im Gegenteil. Viele Brüsseler Kollegen hegen tiefen Groll gegen den Verräter aus den eigenen Reihen, der 24 Ordner mit Beweismaterial gegen einen rauschhaft ausufernden Lobbyismus gesammelt hat, mit dem sich Unternehmen und Interessenverbände die Gunst der Europapolitiker erkaufen wollen.
So kann man es angeblich in einer Woche auf Geschenke im Gegenwert von zehntausend Euro bringen, wenn man sich nicht, wie H.P. Martin von sich behauptet, allem entzieht, alles ablehnt, jeden Versuch der Einflussnahme – oder nennen wir es doch lieber Bestechung – ins Netz stellt und öffentlich macht.
Da wurde es mal etwas unruhig in der Lobbyistenszene, als der Abgeordnete Ernst Strasser vor zwei Jahren unbedacht seine finanziellen Forderungen für eventuelle Gesetzesänderungen einer versteckten Kamera offerierte und sich als Baumeister eines europäischen Lobby-Netzwerkes ausgab. Dafür bekam er im Januar in erster Instanz vier Jahre ohne Bewährung in Aussicht gestellt. Bis zum Haftantritt kann der ehemalige österreichische Innenminister noch viel unternehmen, um seine Geschäfte so zu ordnen, dass sie auch nach der Auszeit wie geschmiert weiterlaufen.
Es heißt, die EU-Parlamentarier seien völlig überfordert, von Arbeitslasten erdrückt und heilfroh, wenn sich da mal jemand anbietet, der weiß, wo es langgeht und wie ein Gesetzentwurf, mit gefälligen Änderungen und Ergänzungen bereichert, schneller alle Hürden bis zur Annahme überwindet. Für die Erarbeitung solcher Gesetzentwürfe gibt es mehr als dreißigtausend Mitarbeiter in den Generaldirektionen, die wiederum in ständigem Kontakt zu Vertretern der betroffenen Industriebranchen stehen. Es sind also nicht nur die von Lobbyisten umschwärmten Abgeordneten sondern auch und vor allem die kleinen Beamten, die gern den Nektar aus dem Expertenwissen saugen. Und unter der Hand wird auch zugegeben, dass die Berater am Wortlaut der Gesetze schon mal mitschreiben.
Derzeit erlebt die EU einen Überfall mit tausenden Änderungsanträgen zur Datenschutz-Verordnung, die vor einem Jahr von der EU-Kommission vorgelegt wurde. Vor allem US-Firmen wollen die Regeln zum Datenschutz aushöhlen. Die Zustimmung der Betroffenen zur Weiterverarbeitung, also zum Verkauf, ihrer persönlichen Daten soll noch mehr untergraben werden, damit sich immer leichter Kundenprofile ahnungsloser Internetnutzer erstellen lassen. Die Namen der beteiligten US-Technologiefirmen lassen sich leicht „googeln“. Im Juni wird sich der zuständige Bürgerrechts- und Innenausschuss mit der neuen Datenschutzverordnung befassen. Wenn diese noch 2013 Gesetzeskraft erhalten soll, wird man sich auf viel Lobby-Wind, sogar auf einen Anti-EU-Shitstorm über den Atlantik, einrichten müssen.
Viel Arbeit für Transparancy und Finance Watch, damit die Demokratie nicht zur Lobbykratie verkommt. Die Brüsseler Verhältnisse ähneln denen in Berlin. Ein Kriterium bei der Wahlentscheidung sollte deshalb sein: wie viel Unabhängigkeit will mein Abgeordneter sich leisten?
Derzeit sind beim Bundestag in der Lobbykartei allein 2141 Verbände offiziell gelistet. Sollten sich die einflussreichsten von Ihnen nicht auch zur Wahl stellen?