Kolumne vom 3.11.2016
Vor gut einem Jahr schrieb ich an dieser Stelle über Oleg Senzow, Putins ukrainische Geisel. Der Filmregisseur wurde inzwischen zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt, und in das ferne sibirische Jakutsk verbannt. Gegen geltendes Recht in Russland, wonach Inhaftierte nur höchstens 200 km von ihrem Wohnort die Strafe verbüßen müssten. Von der Krim bis nach Jakutien sind es fast 9000 km – zu weit für jeden Anwalt, der sich nicht einmal sicher sein kann, ob er nach der Reise überhaupt zu seinem Mandanten vorgelassen wird. Bisher waren alle Proteste internationaler Kollegen aus der Filmbranche, all ihre Solidaritätsbekundungen auf Festivals erfolglos. Langsam wird es stiller um ihn, den angeblichen Terroristen, der eine Tür des Parteibüros „Einiges Russland“ in Brand gesetzt haben soll, wodurch ein Sachschaden im Wert von einigen hundert Euro entstand. Die ursprüngliche Anklage, Senzow und der Mitangeklagte Koltschenko gehörten zum faschistischen „Rechten Sektor“, wurde fallen gelassen. Selbst Gewaltübergriffe der Vernehmer erbrachten kein Geständnis. Die nicht einmal nachgewiesene Straftat wurde dann von einem Militärgericht auftragsgemäß mit der Höchststrafe bedacht.
Anwälte russischer Oppositioneller haben die seit 2012 spürbaren Gesetzesverschärfungen international bekanntgemacht. Das war das Jahr der Demonstrationen gegen Putins Wiederwahl. So wurden aus Delikten, die vormals unter „Rowdytum“ liefen, Terrorakte und Straftaten des Extremismus. Nun mehren sich auch Anklagen wegen Meinungsäußerungen in den sozialen Netzwerken. Wer bei V-Kontakte, dem russischen Facebook, weiterhin gegen die Krim-Besetzung schreibt, steht, wenn er vom russischen Geheimdienst FSB ergriffen wird, bald vor Gericht.
Hier ist es angebracht, einen weiteren Namen zu erwähnen: Raif Badawi. Der saudische Blogger und Kämpfer für Religionsfreiheit, den die ersten 50 Peitschenhiebe im Januar 2015 fast umgebracht hätten, soll nun unter Ausschluss der Öffentlichkeit die restlichen 950 Schläge der Folterstrafe erhalten. Die Raif-Badawi-Stiftung hat dies aus vertraulicher Quelle erfahren und hofft darauf, dass die Weltöffentlichkeit der saudischen Justiz im wahrsten Sinne des Wortes in den Arm fällt. Doch wird Badawis Schicksal angesichts der Schrecken des Krieges in Syrien, wo auch Saudi Arabien und Russland ihre Weltmachtambitionen austoben, überhaupt noch eine große öffentliche Empörung wecken?
Die saudische Religionspolizei kann sich der einschüchternden Wirkung ihrer Machtausübung sicher sein. Und auch Putins Rechnung scheint aufzugehen: jeder Protest erlahmt einmal, und es schleift sich ein, dass behauptet werden kann, alle Bürger der Krim seien schon immer russische Staatsangehörige gewesen. Somit war die Annexion der Halbinsel und die Verschleppung widerspenstiger Ukrainer durch den FSB ein ganz normaler Akt staatlicher Moskauer Souveränität.
Mitte Oktober trafen sich zweihundert russische Oppositionelle in Litauen, also auf sicherem Gebiet. Ihr Disput über die politische Taktik gegen die Putin-Herrschaft endete im Streit zwischen Exilanten und in Russland verbliebenen Regimegegnern. Eigentlich sollten Alternativen für die Zeit nach Putin diskutiert werden. Doch selbst die Forderung, man müsse sich auf das Ziel freier Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und den Verzicht Russlands auf imperiale Ambitionen einigen, verhallte ohne gemeinsame Resolution. Nicht einmal Geld für Angehörige politischer Gefangener sei gesammelt worden, berichtet ein Korrespondent.
Der Text von Klaus Staeck erschien am 3.11.2016 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau
Ein Gedanke zu „Vergessene Gefangene“