Ein Denkmal für Frau K.

Kolumne 14. Juni 2012

Das Wort Denkmal nehme ich sofort wieder zurück. Sie selbst hätte sicher vehement dagegen protestiert. Denn sie hielt das, was sie machte, für selbstverständlich. Frau K. betrieb eine Einrichtung, die als „Tante-Emma-Laden“ am besten zu beschreiben ist, gelegen in einer kleinen Seitenstrasse, dort, wo die Stadt unspektakulär bürgerlich wirkt. Im Angebot waren Zeitungen, Zigaretten, Kaffee, Milch, Ökowein, Eier, Butter, Würstchen im Glas, Brötchen und Kuchen vom Bäcker. Seit einigen Jahren füllte sich der Laden auch mit eigenwilligen Antiquitäten im unteren Preissegment aus Haushaltsauflösungen.

Frau K. war stets mehr als die freundliche Verkäuferin für einige Artikel des täglichen Bedarfs, jeden Tag anwesend von sechs bis achtzehn Uhr. Auch zwei Wochen im Winter, nachdem ihr die Schaufensterscheibe zum wiederholten Male eingeworfen und sie beraubt worden war. Frau K. hatte zu kämpfen. Aber selbst nach einem Sturz, der sie ein Auge kostete, dachte sie nicht ans Aufgeben, sondern lernte, sich mit der verbleibenden Sehkraft zurechtzufinden. Ihr Eigensinn half dabei. Keinen Einfluss hatte sie allerdings auf die Titel und Anzahl der angebotenen Zeitungen und Illustrierten. Das entscheidet der Grossist. Sie hätte sicher häufig eine andere Auswahl getroffen. Die Leih-Eistheke hatte sie wieder abgeschafft. Die Stromkosten fraßen die bescheidenen Gewinne aus den sporadischen Verkäufen von Eis am Stiel. Die Lotto-Lizenz gab sie zurück. Das Glücksgeschäft warf trotz aller obligatorischen Schulungen kaum etwas ab.

Ihr kleines Domizil war Nachrichtenumschlagplatz, Sozialstation und temporäre Heimat für die Bewohner eines überschaubaren Reviers, neben Klagemauer auch offenes Haus für Klatsch und Tratsch. Mit einigen Kunden führte sie lange Gespräche über Musik und Literatur. Andere bekamen wertvolle Tipps zur Gartenpflege. Als gelernte Buchhändlerin wurde sie schnell zur geschätzten Gesprächspartnerin. Sie kannte Hausmittel gegen Wehwehchen aller Art. Sie bemerkte, wenn jemand tagelang nicht kam und möglicherweise Hilfe brauchte. Sie hörte von jeder frei werdenden Wohnung. Alle Nachbarhunde kannten den Weg zu Frau K. und ihren Hundekuchen. Eine Amsel war seit zwei Jahren regelmäßig zu Gast, trippelte täglich mehrmals durchs Geschäft und holte sich Kuchenkrümel und Rosinen von einem extra aufgestellten Teller ab. 

Bei ihr hinterlegte man den Wohnungsschlüssel für den Fall, dass während des Urlaubs etwas passierte. Sie nahm die Pakete gelegentlich auch für jene Nachbarn an, die bei ihr nichts kauften, konnte die Pappenheimer unter ihnen oft drastisch beschreiben. Jedenfalls war sie für jeden da, der jemanden zum Reden suchte. Sie war auf jeden Fall eine politisch engagierte Frau mit einer klaren Haltung, die sie unmissverständlich äußerte. Dabei hoffte sie auf die nächste Regierung. Damit verschreckte sie auch den einen oder anderen Kunden. Mancher kam nicht wieder. Sie las übrigens alle Zeitungen, die sie anbot. Ihre lautstarken Kommentare zu den Nachrichten lieferten oft den Anlass für heftigen Disput mit der Kundschaft. Wenn Bild zum Beispiel wieder einmal besonders unappetitlich schlagzeilte, versteckte sie das Blatt schon mal unter anderen Zeitungen. Geschäftstüchtig war das alles nicht.

Am Montag ist Frau K. plötzlich gestorben.  Ein öffentliches Begräbnis wollte sie nicht.  Am Freitag werden sich die Nachbarn, Kunden und Freunde bei ihr treffen. Dann wird auch gefragt werden, wie es weitergeht und wer Frau K.s Arbeit fortsetzen könnte.

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