Kolumne Juli 2016
Keine meiner mehr als 200 Kolumnen habe ich so oft umgeschrieben wie diese. In 10 Tagen sechs Mal, die Überschrift mehrfach geändert.
Dabei ist unser Verhältnis zur Türkei nicht erst seit dem Militärputsch gestört. In Erdogans Reich herrschen schon länger nur noch bedingt demokratische Verhältnisse. Die Anti-Terror-Gesetze stellen fast jeden Kritiker unter Terror-Verdacht. Presse- und Meinungsfreiheit waren schon vorher de facto abgeschafft, die Immunität von Abgeordneten der Opposition außer Kraft gesetzt. Am Bosporus für Freiheit und Demokratie zu streiten, ist lebensgefährlich.
Ohne auf die Motive der Rebellen einzugehen, wurde das Erdogan-Regime von Politik und Medien sofort der Solidarität der „Freien Welt“ versichert: Stabilität und NATO seien in Gefahr. Als ob es jenseits allen Werte-Geschwurbels in und mit der Türkei noch viel zu verteidigen gäbe. Die Demokratie kann es nicht sein, auf die sich Erdogan immer dreister beruft, je mehr er sie zerstört und je stärker er Atatürks Staatsverständnis verrät.
Bleibt der Kampf gegen den IS. Eine Terrorbande, die er auch schon kräftig unterstützt hatte. Wir Deutschen brauchen ihn besonders für Merkels Deal, damit er uns die Flüchtlinge vom Hals hält. Einen feinen Partner haben wir da, der den Putsch als „ein Geschenk Allahs“ begrüßt hat, als Auftrag zur Säuberung, Denunziation, für Ausreiseverbote von Akademikern. Die von jetzt auf gleich nach Schwarzen Listen suspendierten und eingesperrten 3000 Richter und Staatsanwälte hatten schon wegen der Kürze des Aufstands gar keine Gelegenheit, sich den Putschisten anzuschließen. Je dilettantischer der Putsch, desto professioneller der Gegenputsch. Den Richtern folgten Lehrer, Militärs und Polizisten. Der Sultan leidet nicht erst seit dem 15.Juli an einer behandlungsbedürftigen Paranoia. Der Fall Böhmermann lässt grüßen.
Die Frage, wann ein Autokrat zum lupenreinen Diktator mutiert, hat sich erledigt. Alles ist außer Kraft gesetzt, Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, Wahrung der Menschenrechte, Minderheitenschutz. Fehlt nur noch die Todesstrafe. Immerhin wäre dieser Schritt das Aus für einen EU-Beitritt der Türkei.
Erdogan ist dennoch nicht der Herr der Finsternis, die Verkörperung alles Bösen. Auf seine Weise ist er mit Allahs Hilfe durchaus rational seinen Allmachtsphantasien gefolgt. Er wird getragen von der Staatspartei AKP, ist von breiter Mehrheit gewählt. Immerhin entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass mit dem Kampf gegen das Militär der Weg in die Diktatur geebnet wurde. Erdogans Schicksal wird sich am drohenden wirtschaftlichen Niedergang entscheiden.
Der lange Arm des Diktators reicht bis zu uns. Die 3 Millionen Deutschtürken hat er schon früh vor jeder Assimilation gewarnt. Auch hier wurde die AKP mit absoluter Mehrheit gewählt. Aus Feigheit, die sich als Toleranz tarnt, haben wir zugelassen, dass AKP-nahe Vereine wie ditib ihr Unwesen treiben. Die fahnenschwenkenden Jubeltürken müssen sich entscheiden zwischen Diktatur und demokratischer Grundordnung.
Uns bleibt, allen verbliebenen Demokraten in der Türkei und hier bei uns jenseits von Erdogan und AKP unserer Unterstützung und Solidarität zu versichern. Schon haben Türken auf der Flucht auch vor dem AKP-Mob Asyl beantragt. Eine Hubschrauber-Besatzung hat ihr Glück bereits in Griechenland versucht. Es wird sich zeigen, ob unser universelles Freiheitsversprechen aus fehl verstandener Bündnistreue auch bloß ein Muster ohne Wert ist.