Wie weit soll ich gehen?

Kolumne vom 1.12.2016

Wer einmal mit öffentlichen Ausschreibungen und Vergabevorschriften zu tun hatte, der kann leicht den Glauben daran verlieren, dass Recht und gesunder Menschenverstand auf gleicher Ebene existieren. Diese Erfahrung machen gerade mehr als 3000 Flüchtlinge in Berlin.

Sie wohnen seit Monaten in Turnhallen und werden noch länger dort zubringen müssen, obwohl einzugsfertige, menschenwürdigere Unterkünfte leer stehen. Dass nun mehr und mehr Unmut und Protest laut wird, ist verständlich. Der deutsche Amtsbetrieb an sich und speziell das Erlahmen von politischem Entscheidungswillen, weil sich die Berliner Landesregierung noch nicht gebildet hat, könnten die Lethargie bei der akuten Problemlösung begründen. Doch wer aus Angst um sein Leben Land und Familie verlassen hat, um Anerkennung seines Asylantrags kämpft und nur über ein Feldbett ohne Trennwand als Schlafplatz und Rückzugsort verfügt, dem kann deutsches oder EU-Vergaberecht kaum erklärt werden.

Dabei wird niemand leugnen, welche Leistung vor allem die Kommunalverwaltungen und die freiwilligen Helfer in den letzten eineinhalb Jahren erbrachten, um einen Zustand zu bewältigen, den zu viele unserer Zeitgenossen nur als „Flüchtlingsflut“ und „Überfremdungsgefahr“ wahrgenommen haben. Bürgermeister und Landräte müssen sich einer bisher ungekannten „Bürgerbewegung“  entgegenstellen, deren Ressentiments aus Wut, Hass, Verlust- und Existenzängsten gespeist wird. Eine Partei empfiehlt sich als Alternative und verspricht mit der angeblichen Stimme des Volkes ein anderes Deutschland. Andere ziehen nach und geraten mit ihren populistischen Vorschlägen an den Rand des Strudels, wenn sie fordern, die Hürden der Abschiebung drastisch zu senken, das Aufenthaltsrecht schon bei geringsten Anlässen (vielleicht Protest gegen den Daueraufenthalt in einer Turnhalle?) rigide zu beschneiden und die Sozialleistungen zu kürzen.
Wir sind längst an einem Punkt angekommen, wo das Grundvertrauen in die Beständigkeit demokratischer Umgangsformen als erschütterbar gelten kann. Der Umgang mit Menschen in meiner Umgebung, die kein Vertrauen mehr zu gewählten Politikern haben, die der in Medien veröffentlichten Meinung generell nicht mehr glauben, stellt mich vor die Herausforderung, trotzdem das Gespräch zu suchen. Wie weit kann ich dabei gehen? Höre ich mir mit aller mir zur Verfügung stehenden Geduld auch den an, der „Ausländer raus!“ oder „Deutschland den Deutschen!“ brüllt, um ihm im geduldigen Gespräch die Sorge vor den Fremden auszureden?
Es ist wohl besser, seine Kraft zu konzentrieren, um nicht – bei allem Respekt vor ihrer Courage – wie Claudia Roth vor der Dresdener Frauenkirche vorgeführt zu werden. Doch die große Masse der Verunsicherten, jener, die Angst verspüren, ihren Lebensstil preisgeben zu müssen, weil der hiesige gesellschaftliche Reichtum angesichts globaler Erschütterungen bedroht erscheint, bedarf des Respekts und des Dialogs. Wer politische Verantwortung übernimmt, kann Menschen anderer Meinung nicht ausgrenzen. Denn die wirklichen Herausforderungen für die Stabilität unserer demokratischen Gesellschaft zeichnen sich erst am Horizont ab. Gegenwärtig sind 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – Ursache sind vor allem Kriege, Verteilungskämpfe um Ressourcen, Landraub, Klimawandel.
Wenn wie in jüngsten Schätzungen 30 von 50 der größten Küstenstädte untergehen sollten und 250 Millionen Klimaflüchtlinge auf der Suche nach sicherem Leben sind, werden sich die Nachgeborenen wohl noch einmal an die harmlosen Ängste und Probleme von 2016 erinnern.

Der Text erschien am 1.12.2016 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau

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