Kolumne vom 29.6.2017
Wenn der europäische Staatsakt zum Gedenken an Helmut Kohl in Straßburg über die Bühne gegangen ist, kann Europa aufatmen. Denn es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre es – dem Willen der Witwe entsprechend – zu einem grotesken Eklat gekommen. Viktor Orbán war ausersehen, eine der Trauerreden zu halten. Das konnte vermieden werden, auf wessen Intervention auch immer. Stimmt es, dass Kai Diekmann seine Finger im Spiel hatte, müsste sogar ich schreiben „Bild sei Dank“. Das bleibt mir erspart, er hat ja mit der Zeitung nichts mehr zu tun.
Übrigens: jeder ist für seine Witwe selbst verantwortlich.
Über Helmut Kohl ist seit seinem Tod alles gesagt worden. Seine Verdienste um die deutsche Einheit hat man über die Maßen gewürdigt, auf seinen großen Beitrag zur Beförderung der Satire in Wort und Bild habe ich selbst in Interviews aufmerksam gemacht. Zudem trat er leidenschaftlich ein für ein vereinigtes Europa. Das halte man ihm zu gute. Mit dem Parteispendenskandal und dem hartnäckigen Schweigen über die Geldgeber hat er nicht zuletzt seiner eigenen Partei Schaden zugefügt – aber auch dem Ansehen der Demokratie im Allgemeinen.
Nun sollte ausgerechnet Viktor Orban die passenden Worte für die politische Aussegnung des deutschen Altkanzlers finden. Ein Politiker, der europäische Grundwerte verhöhnt, mit der Aufgabe der Gewaltenteilung die EU-Gremien zum Eingreifen zwingt und in der Behandlung der Flüchtlinge die Maßstäbe der Humanität außer Kraft setzt.
Orban, dessen Land so ausgiebig von europäischen Strukturfonds profitiert, steht für die Pervertierung üppiger Finanzhilfen, die eigentlich der Angleichung unterschiedlicher wirtschaftlicher Voraussetzungen und Lebensbedingungen dienen sollten. Ungarische Rechercheteams und das Internetportal „Pester Lloyd“ widmen sich seit langem der wundersamen Wohlstandsvermehrung im Umkreis von Partei- und Jugendfreunden aber auch der Familie des Regierungschefs. Dank lukrativer Staatsaufträge im Eisenbahn- und Straßenbau, finanziert aus EU-Mitteln, verdoppelten sich die Umsätze im väterlichen Unternehmen „Dolomit“ in nur zwei Jahren mit entsprechender Gewinnsteigerung. Das Energieunternehmen des Schwiegersohns, der das Glück hat, kleinen Städten in der Provinz oft als einziger Bieter seine Straßenlampen zu einem Drittel über dem üblichen Marktpreis bei voller EU-Finanzierung anbieten zu können, floriert ähnlich gut. Am besten geht es dem Freund und Spezi Lőrinc Mészáros, einem gelernten Heizungsmonteur, jetzt Multimillionär. Orban half ihm mal aus der Pleite, machte ihn zum Präsidenten einer Fußballakademie im Heimatdorf, ließ ihn nach der gewonnenen Wahl von 2010 ein Stadion bauen, übertrug ihm über einen österreichischen Mittelsmann den Népszabadság-Verlag, nachdem alle regierungskritischen Redakteure vor die Tür gesetzt worden waren, und läßt ihn auf allen Feldern, wo es EU-Subventionen abzufassen gibt, hemmungslos expandieren. Der österreichische „Standard“ griff die Vermutung auf, Mészarós sei für Orban nur ein Strohmann, weil der Politiker ja offiziell keiner Wirtschaftstätigkeit nachgehen könne. Von der Günstlingswirtschaft profitieren übrigens auch die niederen Chargen in der Fidesz-Partei, die schon mit Tabaklizenzen Geld verdienen können. Fazit: Ein EU-Austritt wäre für Orban undenkbar, weil so dessen Lebenserhaltungssystem in kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Dann gäbe es wirklich Anlass für eine Orban’sche Trauerrede.
Die Kolumne erschien zeitgleich in der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung.