Kolumne vom 15.10.2020
Victor Orbán ist mit einer bewundernswerten Immunität ausgestattet. Seit Jahresbeginn hat der Europäische Gerichtshof nunmehr zum vierten Male den Bruch rechtsstaatlicher Normen in Ungarn festgestellt. Nach der Weigerung, sich an der Lösung der Flüchtlingskrise zu beteiligen um Griechenland und Italien zu entlasten, wurde die rechtswidrige Unterbringung von Asylbewerbern in Ungarns Flüchtlingslagern verurteilt. Wenige Wochen später stellten die Richter des EuGH fest, dass diskriminierende Gesetze die im Land ansässigen Nicht-Regierungs-Organisationen massiv in ihrer Arbeit behindern, weil jeder Spendengeber ohne Schutz persönlicher Daten registriert werden muss. Für Amnesty International steht fest, dass es vor allem darum gehe, unabhängige NGO’s, die sich für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit einsetzen, zum Schweigen zu bringen. Und nun wurde auch dem Hochschulgesetz nachgewiesen, dass es gegen europäisches Recht verstößt. Es war im Jahre 2017 vor allem erlasssen worden, um die renommierte, von George Soros begründete und finanzierte Central European University aus dem Lande zu treiben. Sie mußte inzwischen nach Wien ausweichen. Orbán behauptet, ein „Soros-Netzwerk“ sei das „westeuropäische Hauptquartier des liberalen Imperialismus“ und er scheut auch nicht die fatale Nähe zu einer in Stürmer-Manier betriebenen antisemitischen Propaganda.
Die EU-Kommission hat nun erstmalig „Rechtsstaatsberichte“ vorgelegt, um einen Überblick zu gewinnen, wie es um Medienvielfalt, Gewaltenteilung und Justiz in den Mitgliedsstaaten steht. Für Ungarn konstatierte sie mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, systematische Behinderung und Einschüchterung unabhängiger Medien und Mängel bei der Korruptionsbekämpfung. Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, hat sich vehement dafür ausgesprochen, künftig die Vergabe von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundwerte zu binden. Man kann also mit einer heftigen Zuspitzung der Debatte um die Verabschiedung des nächsten Siebenjahreshaushalts rechnen, wenn Orbán mit seinen Verschwörungsthesen auf den Fang nach Verbündeten geht. Den Begriff der Rechtsstaatlichkeit nennt er offen eine „Erpressungsregel“.
Barley verwies darauf, dass Ungarns Staatschef auch persönlich einiges zu verlieren hat, wenn „die EU-Bürger nicht länger bereit sind ihr Steuergeld in die korrupten Taschen von Orbán fließen zu lassen.“ Aber ob das EU-Parlament sich stark genug zeigen wird, Orbáns Position im Europäischen Rat zu beeinflussen, steht noch in den Sternen der Europafahne.
Zu Hause, in den inzwischen fast gleichgeschalteten Medien, schießt Orbán aus allen Propagandarohren. In Magyar Nemzet, einer mehr als regierungsnahen Zeitung, veröffentlichte er kürzlich einen langen Text, der keinen Zweifel an seinen Zielen und Feindbildern läßt. Darin zu lesen: „Weltweit versucht eine liberale Elite, Europas christliche Konservative zu zerstören!“ … „Unsere nationalen und christlichen Prinzipien sind nicht liberal. Sie sind vor dem Liberalismus entstanden. Sie stehen dem Liberalismus entgegen. Der Liberalismus zerstört sie heute.“ Bemerkenswert auch Orbáns Statement, eine liberale Demokratie könne nur „Zusammenbruch und Chaos bringen, mehr Schaden als Nutzen. Deshalb drücken wir auch für Donald Trumps Sieg die Daumen, weil wir die auf dem moralischen Imperialismus basierende Außenpolitik der Demokraten-Regierungen der USA gut kennen… Wir möchten keinen Nachschlag.“
Was will Europa mit solch einem Partner?
Die Kolumne erscheint am 15.10.2020 in der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung.