Ein ukrainisches Amt darf keine schwarze Liste veröffentlichen, auf der Demokraten und Demokratinnen stehen. Die Kolumne vom 25.08.2022
Das war ein unerhörter Vorgang: Am 14. Juli veröffentlichte eine ukrainische Regierungsbehörde, die sich dem Kampf gegen Desinformation widmet, auf ihren Internetseiten eine schwarze Liste von 75 „Informationsterroristen“, auf der Rolf Mützenich mit Name und Passbild erschien.
Außer dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion fanden sich auch die Autorin Alice Schwarzer sowie die namhaften deutschen Politikwissenschaftler Christian Hacke und Johannes Varwick auf diesem digitalen Fahndungsplakat. Sie alle, so behauptet das Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation beim Nationalen Sicherheitsrat der Ukraine, betrieben das Geschäft der russischen Propaganda und würden deren Lügen verbreiten.
„Informationsterroristen müssen wissen, dass sie sich als Kriegsverbrecher vor dem Gesetz verantworten müssen“, wird Andrij Shapovalov als Leiter des Zentrums und damit offizieller Regierungsvertreter, in einer Pressemeldung zitiert, die immer noch abrufbar ist. Die Fahndungsliste war einen Monat lang online einsehbar – vor einigen Tagen wurde sie zumindest aus dem Netz entfernt. Gab es – was zu hoffen ist – einen Einspruch der Bundesregierung oder war es die Selbsterkenntnis in ukrainischen Regierungskreisen, dass man auch nach den von Botschafter Melnyk vor seiner Abberufung verantworteten Eklats und Beleidigungen, besser zwischen Freund und Feind unterscheiden solle?
Es kann nicht sein, dass eine ukrainische Behörde, die laut eigener Auskunft vor allem vom US Civil Research and Development Fund und vom US Aussenministerium unterstützt wird, darüber befindet, was in deutschen Medien gesagt und geschrieben werden darf.
Es gibt den Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention, der die freie Meinungsäußerung garantiert. Auch in der US-Verfassung Bill of Rights steht seit 1791, dass durch den Kongress kein Gesetzt erlassen werden darf, das die Rede- und Pressefreiheit einschränkt. Bemerkenswert ist deshalb, dass auch US-Senatoren, Abgeordnete, ein Pulitzer-Preisträger und ehemalige Geheimdienstler als terrorverdächtig gebrandmarkt werden. Sind das alte Rechnungen aus Washington, die hier unter ukrainischem Wappen beglichen werden sollen? Kein Zweifel, die Ukraine muss sich nicht nur einer militärischen Übermacht des russischen Aggressors erwehren. Sie hat auch einen Propagandakrieg gegen russische Medien, Fake-News-Verbreitung, übelste Entstellungen und Lügen der putinschen Cybergarde zu kämpfen. Ich habe mich hier in mehreren Kolumnen dem Propagandasender RT DE und seinen deutschen Kommentarhetzern gewidmet. RT-Chefin Margarita Simonjan hatte bereits Jahre vor dem Überfall auf die Ukraine den Sender zum „Verteidigungsministerium“ des Kreml erklärt. Im Krieg könne ein Auslandssender entscheidend sein, „eine Armee gründet man ja auch nicht erst eine Woche vor Kriegsbeginn,“ sagte Simonjan 2013.
Rolf Mützenich steht für eine verantwortungsbewußte sozialdemokratische Sicherheitspolitik. Er verteidigt den Kurs des Bundeskanzlers und schrieb schon im April an die Fraktion: „Wir dürfen uns von Stimmen nicht beeindrucken lassen, die uns und der Öffentlichkeit weismachen wollen, Deutschland komme seiner Verantwortung nicht nach. Das Gegenteil ist der Fall.“
Ich lasse mir von keinem kriegsfreudigen Kommentator oder Talkshowteilnehmer ausreden, dass Willy Brandt und Egon Bahr zu den Garanten des Friedens in der Zeit des Kalten Kriegs gehörten. Es war Putin, der das fragile Sicherheitssystem zerstört hat.
Die Kolumne erschien am 25.08.2022 unter dem Titel „‚Schwarze Liste“: Freund und Feind“ in der Frankfurter Rundschau.
Nachtrag vom 06.11.2022:
Als Reaktion auf einen Redebeitrag von Rolf Mützenich am 05.11.2022 auf dem zweitägigen Debattenkonvent in Berlin haben der ehemalige ukrainische Botschafter Melnyk und Außenamtssprecher Nikolenko in Abrede gestellt, dass es eine „Terrorliste“ des „Zentrums gegen Desinformation des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine“ gäbe oder gegeben habe. Alle Behauptungen des deutschen Politikers über seine angebliche Verfolgung durch ukrainische Behörden seien „unwahr“.
Der oben abgebildete Screenshot von der amtlichen Regierungsseite (09.08.2022) und die in der Kolumne angeführten Zitate sprechen für sich. Die Textseite zur „Fahndungsliste“ von mehr als 70 Personen wurde inzwischen im Internet gelöscht. Hier der vor der Löschung kopierte Text in einer automatischen Übersetzung:
14.07.2022
Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation im NSDC der Ukraine
Andriy Shapovalov: Personen, die absichtlich Desinformation verbreiten, sind Informationsterroristen
Vertreter von Behörden, NGOs, Medien und internationale Experten nahmen an einem Runden Tisch zur Bekämpfung von Desinformation teil.
Die Teilnehmer diskutierten die in der Ukraine und im Ausland verwendeten Methoden sowie den rechtlichen Rahmen und die Merkmale der Interaktion zwischen Zivilgesellschaft und Regierungsbehörden, um Fälschungen und Desinformation im Kontext der Cybersicherheit entgegenzuwirken.
Während der Diskussion bestand der amtierende Leiter des Zentrums zur Bekämpfung von Desinformation, Andriy Shapovalov, darauf, dass Personen, die absichtlich Desinformation verbreiten, Informationsterroristen sind. Er stellte fest, dass es zum Schutz des Informationsraums notwendig ist, die Gesetzgebung zu ändern. „Informationsterroristen müssen wissen, dass sie sich als Kriegsverbrecher vor dem Gesetz verantworten müssen“, sagte er.
(Під час обговорення в. о. керівника Центру протидії дезінформації Андрій Шаповалов нагалосив, що особи, які свідомо поширюють дезінформацію, є інформаційними терористами. Він зауважив, що для захисту інформаційного простору необхідно внести зміни до законодавства. «Інформаційні терористи мають знати, що їм доведеться відповідати перед законом як військовим злочинцям», – підкреслив він.)
Auch während seiner Rede stellte der amtierende Leiter des Zentrums fest, dass die Ukraine den Informationskampf zuversichtlich gewinnt. Der Runde Tisch wurde von der Nationalen Akademie des Sicherheitsdienstes der Ukraine, dem US Civil Research and Development Fund (CRDF Global Ukraine), der NGO „International Academy of Information“, der Koordinationsplattform „National Cybersecurity Cluster“ organisiert. Die Veranstaltung wurde vom US-Außenministerium unterstützt. (Ende der Übersetzung)
Siehe auch: der Freitag, 09.11.2022, von Wolfgang Michal:
Terrorliste der Ukraine: Sie lassen Rolf Mützenich im Regen stehen
Meinung Eine der Selenskyj-Regierung unterstellte Behörde will „Informationsterroristen“ als „Kriegsverbrecher“ vor Gericht stellen, etwa den SPD-Fraktionschef. Wie die Partei und deutsche Medien damit umgehen, ist ein vierfacher Skandal. (…) Skandal Nummer zwei: Auch niemand im politischen Berlin protestiert gegen diese Ungeheuerlichkeit. Stattdessen peinliches Schweigen. Nur der ehemalige Präsident der Berliner Akademie der Künste, Klaus Staeck, der ein feines Gespür für den einschüchternden Charakter solcher Methoden hat, empört sich in der Frankfurter Rundschau. Kein Bundeskanzler, kein Bundespräsident, keine Parteigröße stellt sich vor Mützenich, sogar die eigene Parteiführung lässt ihn im Regen stehen. (…)
Ich schreibe heute am 06.11.22, keine Ahnung, ob das noch von irgendjemandem gelesen wird. Heute gibt es in ZEIT und Spiegel Artikel zu Rolf Mützenich der sich „irritiert“ über die oben beschriebene Liste zeigt. Das ukrainische Außenministerium weist seine Aussage als unwahr zurück. Die Artikel sind so formuliert, dass sie suggerieren, da stehe Meinung gegen Meinung. Aber was mich beinahe verzweifelt macht, sind die Kommentare der Foristen, die Mützenich mit Diffamierungen und Beschimpfungen überziehen. Die jeweiligen Redaktionen, die so auf „Nettikette“ achten, haben überhaupt kein Problem damit. Mein sachlicher Kommentar dazu wurde nicht gesendet. Bin gerade wirklich entsetzt, wie man vernünftige Politiker versucht medial zu zerstören.